Für einmal eine Quizfrage: Hier Aussagen des Geschäftsführers und des Trainers zur aktuellen Situation. Bedeuten diese Aussagen:
a) Krise,
b) alles wie erwartet oder
c) die Erwartungen werden übertroffen?
Der Geschäftsführer:
Der Trainer:
Mit seinen zwei wichtigsten Einzelspielern – den beiden Ausländern – sei er sehr zufrieden.
Es geht um den EHC Visp. Beim Geschäftsführer handelt es sich um Sébastien Pico und beim Trainer um Heinz Ehlers. Die richtige Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet a) Krise. Obwohl die Aussagen eher auf b) oder c) deuten.
Der EHC Visp steckt gerade in einer der spektakulärsten Krisen seiner ruhmreichen Geschichte. Drei Siege in 14 Spielen, zweitletzter Platz und am späten Sonntagabend ein 1:8 auf eigenem Eis gegen das Farmteam der ZSC Lions. Bereits nach zwei Dritteln stand es 0:8. Nach sechs Gegentreffern und einer Fangquote von 76,92 Prozent ist Torhüter Stefan Müller ausgewechselt worden.
Das offiziell formulierte Ziel für diese Saison ist salomonisch formuliert: Einen Schritt weiter sein als letzte Saison. Dieses Ziel müsste zu erreichen sein: In die Playoffs kommen und dann den Viertelfinal gewinnen. Seit dem Gewinn der Meisterschaft 2014 ist Visp nie mehr über die Viertelfinals hinausgekommen.
Visp ist der Krösus der zweithöchsten Liga: eine ruhmreiche Tradition (Schweizer Meister 1962), ein nigelnagelneues Stadion, volle Geldspeicher mit einem Budget von gut sechs Millionen Franken und Stabilität im Management: Seit 2005 amtiert Sébastien Pico als Bürogeneral. Es ist die Basis für einen Aufstieg in die höchste Spielklasse. Nur eine scheinbare Kleinigkeit fehlt: der sportliche Erfolg.
Wie kann es sein, dass der Manager und der Trainer bei anhaltender, wochenlanger sportlicher Depression rühmen und ganz guter Dinge sind? Weil Sébastien Pico politisch schlau den Erfolgsdruck in die Zukunft delegiert. Zwar ist der Aufstieg das erklärte langfristige Ziel. Aber eben nur langfristig. Kurzfristig reicht es, einen kleinen Schritt weiterzukommen. Ein wenig tönt es so wie im richtigen Leben im Wallis: Ruhm und Reichtum (bzw. Aufstieg in die NL) warten für die Braven erst im Himmelreich. Wichtig ist, in der Gegenwart rechtschaffen, demütig und tüchtig zu sein. Das muss reichen.
Sébastien Pico spricht von zwei Ebenen. Von der Gegenwart und der Zukunft: «Wir haben ein langfristiges Projekt mit Heinz Ehlers, das über den Zweijahresvertrag hinausgeht und von dem wir alle überzeugt sind. Es wäre nicht klug, wegen der Startschwierigkeiten gleich alles über den Haufen zu werfen.»
Heinz Ehlers ist der berühmteste Trainer in Visp seit Bibi Torriani, der die Mannschaft 1962 zum bisher einzigen Meistertitel führte. Heinz Ehlers hat das perfekte Profil für Visp: in Biel, Langenthal, Lausanne und Langnau hat er in beharrlicher, geduldiger Arbeit erstaunliche, ja sensationelle Erfolge gefeiert: mit Biel stieg er in die NLA auf, mit Langenthal gewann er die Meisterschaft der zweithöchsten Liga, Lausanne und Langnau führte er in die Playoffs. Im Frühjahr 2020 hat er Langnau verlassen, um vollamtlicher Nationaltrainer in Dänemark zu werden. Auf diese Saison ist er ins Tagesgeschäft des Klubtrainers zurückgekehrt. Er gilt als exzellenter Taktiklehrer, der ein Maximum aus einer Mannschaft herauszuholen versteht.
So gesehen ist der Fehlstart in Visp erstaunlich, ja unerklärlich. Für Sébastien Pico ist die ganze Angelegenheit eine Kopfsache. Nach einer guten Vorbereitungsphase war offensichtlich die Pleite im Auftaktspiel ausgerechnet gegen Lokalrivale Sierre ein Stich ins Herz, von dem sich die Mannschaft noch nicht erholt hat: Im Schlussdrittel ist eine 3:0-Führung verspielt worden und das Derby ging in der Verlängerung 3:4 verloren. Sébastien Pico sagt: «Die Balance zwischen Offensive und Defensive ist verlorengegangen. Die müssen wir wieder finden.» Der Trainer stelle hohe Ansprüche an die Spieler und das werde von allen akzeptiert. «Zur Kopfsache gehört auch, dass in dieser Lernphase halt manchmal aus Unsicherheit – soll ich jetzt dies oder das tun – Passivität wird.»
Heinz Ehlers spricht von einem Lernprozess, sieht die Mannschaft auf einem guten Weg und ist optimistisch. Die 1:8-Pleite gegen die GCK Lions relativiert er: «Natürlich sieht nach einem 1:8 zu Hause alles schwarz aus. Aber Spiele gegen die GCK Lions sind nicht mehr wie früher. Das ist nicht mehr eine Mannschaft aus Junioren und zwei mittelmässigen Ausländern. Das ist inzwischen ein sehr starkes, gut gecoachtes Team geworden.»
In vielen Partien sei der Sieg am Schluss noch aus der Hand gegeben worden. «Wir haben irgendwie immer einen Weg in die Niederlage gefunden.» Er ist davon überzeugt, dass sich dies ändern wird. Weil er spüre, dass die Spieler mitziehen.
Kritische Beobachter sagen, eigentlich müssten die Ausländer und die Torhüter besser sein. Dort sei das Problem. Die Statistik gibt diesen Kritikern recht. Jacob Nilsson und Garry Nunn finden wir in der Skorerliste der SL-Ausländer auf den Positionen 14 und 15. Sie haben bisher bloss 8 von 28 Toren beigesteuert. Mit einer Fangquote von miserablen 89,37 Prozent ist Stefan Müller statistisch die schwächste Nummer 1 der Liga. Der Österreicher mit Schweizer Lizenz ist aus Ambri gekommen und zum ersten Mal in seiner Karriere bei einem ambitionierten Profiteam die Nummer 1. Defensiv schwacher als Visp sind nur noch die Ticino Rockets. Mit Heinz Ehlers an der Bande!
Doch Sébastien Pico und Heinz Ehlers hüten sich vor einer Goalie- oder Ausländerpolemik wie der Teufel vor dem geweihten Wasser. Der Manager sagt, Stefan Müller sei in der Vorbereitung herausragend gewesen und müsse sich an die neue Position gewöhnen, und der Trainer redet kurz und klar:
Natürlich ist das grösste Problem in Visp Lottergoalie Stefan Müller. Mit einer Ausnahme (beim 1:0 in La Chaux-de-Fonds) hat er bisher in allen wichtigen Partien versagt. Aber das darf niemand sagen. Sonst müsste man einen neuen Goalie engagieren. Ohne polemisch zu sein: Sébastien Pico mag sagen und hoffen, was er will – er wird im Laufe der Saison einen neuen Torhüter verpflichten müssen.
Das Krisenszenario in Visp enthält zwar alle Klischees wie etwa das Treuebekenntnis zum Trainer, zum Goalie und zu den Ausländern – und unterscheidet sich doch von ähnlichen Situationen bei anderen Klubs: Der Manager mag den Trainer tatsächlich, einen Aufstand in der Kabine gibt es nicht, billige Ausreden werden keine gesucht und Heinz Ehlers wirkt keineswegs grantig oder gar verunsichert: Er glaubt an seine Mission und an eine Wende. Sagt aber auch: «Jetzt ist die Zeit, um selbstkritisch zu sein, und hier sind alle selbstkritisch.»
Die Ruhe in Zeiten der Krise dürfte den ganz besonderen Umständen geschuldet sein: Visp ist eben ein Hockey-Disneyland. Geld ist genug da, die Fans sind treu (gut 2000 kommen immer) und die lokalen Medien freundlich. Die kritischeren nationalen Medien interessieren sich nicht für Visp. Der Manager sitzt dank seiner Vernetzung im Dorf und mit den wichtigen Investoren seit mehr als zehn Jahren nicht nur sicher im Sattel. Seine Kritiker (die gibt es im Dorf immer) sagen ärgerlich, sein Stuhl sei festgeschraubt.
Bessere Voraussetzungen für eine Krisenbewältigung gibt es eigentlich nicht. Wenn es einer wie Heinz Ehlers in diesem Hockey-Disneyland nicht schafft, dann könnte eine Revolution die Folge sein, die sich gegen … Sébastien Pico richtet. Die Geschichte möge ihm eine Mahnung sein: Auch der grosse Kaspar Stockalper schien einst im Wallis alle und alles im Griff zu haben und wurde doch gestürzt.